„Kurve kriegen"
Frühe Straftaten müssen kein Schicksal sein: Düsseldorfer Team stärkt Kinder, Jugendliche und deren Familien und holt junge Menschen aus der Kriminalität
Text: Wolfram Lotze, Bilder: Eugen Shkolnikov
Manche Kinder und Jugendliche kommen schon früh mit der Polizei in Kontakt, obwohl sie noch nicht strafmündig sind. Um nicht auf Dauer kriminell zu werden, brauchen sie Hilfe und Unterstützung – damit sie noch rechtzeitig die „Kurve kriegen“. Das gleichnamige NRW-Programm gibt es seit 2011, und seit neun Jahren ist Ruveyda Gül Cantürk für die AWO Düsseldorf dabei. „In all den Jahren hat sich zwar einiges verändert. Aber das Grundprinzip bleibt, dass wir mit den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe zusammenarbeiten“, sagt die diplomierte Sozialpädagogin.
Die Abläufe sind klar geregelt. Bei einem Delikt spricht zuerst die Polizei die Familien an. Wenn das Kind eine Straftat begangen hat, muss es zur Anhörung, dann wird den Eltern „Kurve kriegen“ vorgeschlagen. Wenn diese ihr Okay geben und eine Einverständniserklärung unterschreiben, kommen die Pädagog*innen ins Spiel. „Die Eltern sind zu 99,9 Prozent einverstanden, nur bei den Jugendlichen hakt es dann manchmal“, berichtet Gül Cantürk.
“Wir gehen als Erstes zu den Familien nach Hause, um einen Eindruck zu bekommen. Die Eltern sind in der Regel für jede Hilfe dankbar.“ Wichtig: „Wir versuchen, nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern auch die Familien zu unterstützen. Das ist eine Art Kompakt-Paket.“ Die Mehrzahl der straffälligen Kinder und Jugendlichen kommt aus sozial belasteten Familien. Diese wiederum gehen durch alle Schichten der Düsseldorfer Gesellschaft.
Meist beginnt es mit kleinen Delikten und steigert sich dann. „Ich betreue seit einiger Zeit einen Teilnehmer, der bereits schwerwiegende Straftaten begangen hatte, was zur Aufnahme in die Initiative ,Kurve kriegen‘ führte“, sagt Gül Cantürk. „Dann stabilisierte er sich für eine gewisse Zeit und fiel dann wieder durch einen Labello-Diebstahl auf. Er ist rein in den Laden, kaufte ein Deo und nahm den Labello einfach mit - nur um den anderen zu beweisen: Ich traue mich!“ Und dann auch noch in einem Geschäft, in dem seine Mutter seit Jahren Kundin ist… Gül Cantürk: “Die Verkäufer kennen den Jungen und fragen: Warum machst du das?“
Deutlich heftiger sind Straftaten wie Erpressung oder Betrug. „Die Kinder und Jugendlichen faken irgendwelche Accounts und bestellen bei Amazon für 1.800 Euro im Namen von anderen Personen. Sie stellen sich dann bei Lieferung vor deren Haustür und nehmen die Pakete entgegen“, sagt die Pädagogin. Körperverletzungsdelikte sind ihrer Erfahrung nach in diesem Jahr dagegen etwas rückläufig.
Probleme in der Schule
Die Familien, welche die drei Düsseldorfer Pädagog*innen von der Initiative „Kurve kriegen“ betreuen, sind sehr oft alleinerziehende Eltern, meist Mütter. Viele Väter kümmern sich kaum um ihre Kinder und zahlen keinen bis wenig Unterhalt. So müssen die Mütter zwangsweise arbeiten gehen. Das nutzen die Jugendlichen aus – etwa, indem sie die Schule schwänzen. „Wir haben Teilnehmer*innen, die im ganzen Schuljahr vielleicht eine Woche zur Schule gehen.“
Neben der Schule ist die Freizeit ein großes Handlungsfeld. „Viele Jugendliche hängen gerne rum“, sagt die Pädagogin. „Mit Fußballverein oder Gitarrenunterricht ist da nix mehr.“ Das Problem: Die Jugendlichen möchten nirgendwo angebunden sein, wollen frei sein. Da werden selbst feste Termine in der Woche schon zu Herausforderungen. Die Initiative „Kurve kriegen“ hat darauf reagiert. „Wir haben unter anderem ein pädagogisches Box-Angebot für unsere Jugendlichen. Die treffen sich zweimal in der Woche, aber sie wissen, dass sie nicht kommen müssen.“ Und: Der Trainer kennt sich mit herausfordernden und straffällig gewordenen Jugendlichen aus und weiß, welche Ansprache sie brauchen und bei welchen sie dranbleiben. „Er kennt das Klientel…“, sagt die Sozialpädagogin.
Durchschnitt zweieinhalb Jahre, einige sogar länger. Erst Anfang des Jahres haben sie einige als Absolvent*innen entlassen können. Gül Cantürk: „Wir vereinbaren Ziele, und wenn die Ziele erreicht werden und die Kinder und Jugendlichen mindestens ein Jahr lang nicht mehr strafauffällig geworden sind, begleiten wir sie noch einige Monate und dann werden sie als Absolvent*in entlassen.“ Die Betreuung geht von acht bis 18 Jahre. Aktuell betreuen die drei Pädagog*innen 22 Jugendliche in Düsseldorf. Bei der Polizei gibt es spezielle Ansprechpersonen nur für „Kurve kriegen“. So ist die Initiative auch räumlich nah bei der Polizei angesiedelt - im Haus des Jugendrechts, mitten in der Düsseldorfer City.
Schwerpunkt der Arbeit des Teams von „Kurve kriegen“ ist Aufklärung. Primäre Frage: Was passiert, wenn die Kinder und Jugendlichen auf dieser Schiene weiterfahren? Es geht um Aufklärung bei Gerichtsverfahren, um Strukturen für das Leben – oder einfach darum, morgens aus dem Bett zu kommen und in die Schule zu gehen. „Wir sagen immer: ,Du kannst das‘. Die meisten können es auch, aber es hapert an anderen Sachen: nicht pünktlich hinkommen, aufmüpfig sein, Verhaltensauffälligkeiten“, sagt Gül Cantürk. „Daran arbeiten wir.“
Besuch im Jugendarrest
Regelmäßig besuchen Gruppen aus der Initiative „Kurve kriegen“ den Jugendarrest in Gerresheim. Ein Leben in der Zelle - ohne Handy, ohne Tablet. „Nach drei Minuten kommen viele kreidebleich raus“, sagt Ruveyda Gül Cantürk. Bei den Jüngeren wirkt das, bei den Älteren zumindest nicht sichtbar – die fühlen sich zu cool dafür.
Pro Woche sollte mindestens einmal Kontakt zu den Klient*innen bestehen, in der Regel sprechen Gül Cantürk und ihre Kolleg*innen aber viel häufiger mit den Kindern und Jugendlichen. Nicht immer läuft alles glatt. „Wir hatten Teilnehmer, die zu Intensivstraftätern geworden sind. Sie mussten dann ,Kurve kriegen‘ verlassen“, so die Sozialpädagogin. Dann gibt es Abbrecher*innen, die ein Jahr nicht mitarbeiten wollen – „und dann bin ich als Betreuerin raus.“ Aber nicht immer.
Einmal betreute sie einen Jugendlichen, der gute Anlagen hatte, aber schwer in Tritt kam. „Bei dem hat es erst nach 14 Monaten ,Klick‘ gemacht und heute ist er Absolvent – manchmal müssen wir den langen Atem haben.“ Zur vorgeschriebenen Kontaktaufnahme gibt es eine anonymisierte Berichterstattung. Alle drei Monate erfolgt ein Bericht ans Innenministerium.
Auch nach neun Jahren Arbeit in der Initiative ist Ruveyda Gül Cantürk hoch motiviert. „Es ist manchmal sehr anstrengend, aber es macht Spaß. Ich habe Freude im Umgang mit Menschen und ich liebe meinen Job!“ Nur eines hat sich geändert: „Früher arbeitete ich fast zu jeder Tageszeit. Jetzt habe ich zwei Kinder und da gibt es ein anderes Zeitmanagement…!“
Durchschnitt zweieinhalb Jahre, einige sogar länger. Erst Anfang des Jahres haben sie einige als Absolvent*innen entlassen können. Gül Cantürk: „Wir vereinbaren Ziele, und wenn die Ziele erreicht werden und die Kinder und Jugendlichen mindestens ein Jahr lang nicht mehr strafauffällig geworden sind, begleiten wir sie noch einige Monate und dann werden sie als Absolvent*in entlassen.“ Die Betreuung geht von acht bis 18 Jahre. Aktuell betreuen die drei Pädagog*innen 22 Jugendliche in Düsseldorf. Bei der Polizei gibt es spezielle Ansprechpersonen nur für „Kurve kriegen“. So ist die Initiative auch räumlich nah bei der Polizei angesiedelt - im Haus des Jugendrechts, mitten in der Düsseldorfer City.
Schwerpunkt der Arbeit des Teams von „Kurve kriegen“ ist Aufklärung. Primäre Frage: Was passiert, wenn die Kinder und Jugendlichen auf dieser Schiene weiterfahren? Es geht um Aufklärung bei Gerichtsverfahren, um Strukturen für das Leben – oder einfach darum, morgens aus dem Bett zu kommen und in die Schule zu gehen. „Wir sagen immer: ,Du kannst das‘. Die meisten können es auch, aber es hapert an anderen Sachen: nicht pünktlich hinkommen, aufmüpfig sein, Verhaltensauffälligkeiten“, sagt Gül Cantürk. „Daran arbeiten wir.“
Besuch im Jugendarrest
Regelmäßig besuchen Gruppen aus der Initiative „Kurve kriegen“ den Jugendarrest in Gerresheim. Ein Leben in der Zelle - ohne Handy, ohne Tablet. „Nach drei Minuten kommen viele kreidebleich raus“, sagt Ruveyda Gül Cantürk. Bei den Jüngeren wirkt das, bei den Älteren zumindest nicht sichtbar – die fühlen sich zu cool dafür.
Pro Woche sollte mindestens einmal Kontakt zu den Klient*innen bestehen, in der Regel sprechen Gül Cantürk und ihre Kolleg*innen aber viel häufiger mit den Kindern und Jugendlichen. Nicht immer läuft alles glatt. „Wir hatten Teilnehmer, die zu Intensivstraftätern geworden sind. Sie mussten dann ,Kurve kriegen‘ verlassen“, so die Sozialpädagogin. Dann gibt es Abbrecher*innen, die ein Jahr nicht mitarbeiten wollen – „und dann bin ich als Betreuerin raus.“ Aber nicht immer.
Einmal betreute sie einen Jugendlichen, der gute Anlagen hatte, aber schwer in Tritt kam. „Bei dem hat es erst nach 14 Monaten ,Klick‘ gemacht und heute ist er Absolvent – manchmal müssen wir den langen Atem haben.“ Zur vorgeschriebenen Kontaktaufnahme gibt es eine anonymisierte Berichterstattung. Alle drei Monate erfolgt ein Bericht ans Innenministerium.
Auch nach neun Jahren Arbeit in der Initiative ist Ruveyda Gül Cantürk hoch motiviert. „Es ist manchmal sehr anstrengend, aber es macht Spaß. Ich habe Freude im Umgang mit Menschen und ich liebe meinen Job!“ Nur eines hat sich geändert: „Früher arbeitete ich fast zu jeder Tageszeit. Jetzt habe ich zwei Kinder und da gibt es ein anderes Zeitmanagement…!“
Info
Die Initiative „Kurve kriegen“ geht zurück auf eine Enquetekommission des Landtages NRW. Die Kommission hatte von 2008 bis 2010 zum Thema Prävention von Jugendkriminalität gearbeitet. „Kurve kriegen“ folgt der Empfehlung, die Gruppe der gefährdeten Kinder und Jugendliche in den Blick zu nehmen und Präventionsmaßnahmen einzuleiten, damit diese nicht dauerhaft in Kriminalität abgleiten.
„Kurve kriegen“ startete 2011 als polizeiliches Pilotprojekt an acht Standorten. Inzwischen beteiligen sich in NRW 42 Polizeibehörden an der Initiative. Seit dem Start gibt es mittlerweile mehr als 1.500 Absolvent*innen. Auch in Schweden wird das Konzept inzwischen an sechs Standorten unter dem Namen „Rätt Kurva“ umgesetzt. Die Wirksamkeit wurde durch Evaluationen der Kieler Christian-Albrecht-Universität und der PROGNOS AG belegt. Danach werden 40 Prozent der Absolvent*innen in der Folge nicht mehr straffällig. Bei den restlichen 60 Prozent halbieren sich die Straftaten.
Die Trägergemeinschaft für Düsseldorf besteht aus AWO Familienglobus gGmbH, Diakonie Düsseldorf und dem Verein für soziale Betreuung in Düsseldorf e.V. Die AWO Düsseldorf übernimmt dabei eine koordinierende Funktion.
Neue Perspektiven entwickeln
„Die Initiative ‘Kurve kriegen‘ eröffnet jungen Menschen die Chance, sich aus schwierigen Lebenssituationen zu befreien und neue Perspektiven zu entwickeln. Durch die engagierte und vertrauensvolle Arbeit von Ruveyda Gül Cantürk und weiteren Kolleg*innen gelingt es, Jugendliche frühzeitig zu erreichen, sie zu stärken und auf einen positiven Weg zu begleiten. Diese Zusammenarbeit stärkt aber nicht nur die Jugendlichen, sondern auch unsere Arbeit als sozial engagierter Träger. Für die AWO ist diese Initiative ein wichtiger Beitrag zur sozialen Verantwortung und zur Förderung von Teilhabe und Chancengleichheit.“
Aleksandra Schmidt, Hauptabteilung Beratung – Erzieherische Hilfen, AWO Familienglobus gGmbH