„Es wäre schön, sich nicht erst erklären zu müssen"

Vielfaltssensibler Umgang mit älteren Menschen

Ausgabe 1/2025

Menschen, die heute in die Senior*innenhilfe oder eine Pflegeeinrichtung gehen, bringen ihre eigene Geschichte mit. Soziale, kulturelle und politische Erlebnisse haben sich in ihre Biografie eingeschrieben. Dazu können  auch Erfahrungen mit Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität gehören. Es ist zudem keine Seltenheit, dass Menschen der älteren Generation erst spät, teilweise im hohen Alter, ihr Coming-Out haben.

Neben der sexuellen Orientierung sind auch Herkunft, Geschlecht, Religion, körperliche, kognitive und psychische Fähigkeiten, soziale Herkunft und Alter Dimensionen der Vielfalt, die mit Ein- und Ausgrenzungen einhergehen können. Wie kann die Senior*innenarbeit Menschen individuell erreichen und ihren vielfältigen Bedarfen gerecht werden? Damit beschäftigen sich Anne Kühl, Leiterin der Offenen Senior*innenhilfe, und Bernd Plöger, Teil der Anlauf- und Beratungsstelle „Queer im Alter“

Anne Kühl und Bernd Plöger setzen sich in den „zentren plus“ der AWO Düsseldorf dafür ein, dass die Offene Senior*innenarbeit Menschen individuell erreicht und ihren vielfältigen Bedarfen gerecht wird.

 

Die Bedarfe sind so verschieden, wie die Menschen selbst

Die AWO betreibt in Düsseldorf acht „zentren plus“ und einen Nachbarschaftstreff. Das sind Einrichtungen der „Offenen Senior*innenhilfe“, die sich an die Generation 55 plus richten. Im Programm stehen Beratung und Hilfen, gemeinsame Freizeitgestaltung, Weiterbildungs- und Kreativangebote, Kulturveranstaltungen, interkulturelle Begegnung oder Beratung und Unterstützung für Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter*, asexuell, agender und/oder queer (kurz LSBTIAQ+) identifizieren. „Neben den vielen Angeboten, die sich immer ausdrücklich an alle Menschen richten, gibt es auch solche für einzelne Zielgruppen. Das ist eine Form von Willkommenskultur. Ein sicherer Raum schafft Vertrauen und fungiert oft auch als Türöffner für andere Beratungen und Gruppen“, sagt Anne Kühl. Die Bedarfe seien dabei so unterschiedlich wie die Menschen selbst und das Risiko, im Alter unter Einsamkeit zu leiden umso größer, wenn Menschen sich nicht trauen, in Treffs oder Einrichtungen zu gehen, weil die Hürde zu groß ist, sie Ausgrenzung fürchten oder sich nicht angesprochen fühlen. „Es ist wichtig, gemeinsam mit den Menschen Räume zu gestalten, die dann zu ihren werden“, erläutert Anne Kühl.

Bernd Plöger (l.) und René Kirchhoff (r., Aidshilfe Düsseldorf) beraten und unterstützen nicht nur ältere queere Menschen, sondern klären auch auf und schulen Pflegekräfte. Foto: Eugen Shkolnikov

Kompetente und diskriminierungsfreie Versorgung: Beratungsstelle „Queer im Alter“

Bernd Plöger, Koordinator des „zentrum plus“ der AWO in Unterbilk, ist auch Teil der Beratungsstelle „Queer im Alter“, einer Kooperation mit der Aidshilfe Düsseldorf. Sie berät, stärkt und vernetzt ältere queere Menschen, schult Fachkräfte in der Pflege und in der offenen Senior*innenarbeit. Vertrauen und Beziehung sind das wichtigste, sagt er. „Durch Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung bis hin zu Kriminalisierung, auch von staatlicher Seite, ist es für ältere queere Menschen oft schwer, sich an offizielle Stellen zu wenden. Sie brauchen niedrigschwellige, auf sie zugeschnittene Angebote und eine respektvolle Versorgung. „Queer im Alter“ berät und begleitet sie und sorgt für eine kompetente und diskriminierungsfreie Beachtung ihrer Bedarfe, von der Erstberatung bis zur Vermittlung sensibilisierter Pflegeeinrichtungen.“

Spätes Coming-Out

Häufig begleitet die Beratungsstelle auch das späte Coming-Out von Menschen, die aus einer Generation stammen, in der das nicht selbstverständlich ist. Im „zentrum plus“ in Unterbilk hatte vor 16 Jahren, lange vor „Queer im Alter“, die heute 87-jährige Barbara ihr Coming-Out. Sie vertraute sich der damaligen Leiterin und schließlich ihrer Gymnastikgruppe an. Die Reaktionen in der Gruppe waren unterschiedlich, erzählt sie, „einige fanden es richtig toll, manchen war es egal, und einige fanden es schlimm. Eine andere lesbische Frau gab es in der Gruppe nicht.“ Gestärkt hat sie neben der Unterstützung durch die Leiterin des „zentrum plus“, dass sie gut vernetzt war. Sie arbeitete im Frauenbuchladen und war in der Frauenbewegung aktiv. „Ich habe immer viel mit Frauen zu tun gehabt, auch mit lesbischen. Die sagten teilweise schon zu mir: ‚Bist du immer noch nicht lesbisch?‘ Eines Tages konnte ich sie dann beruhigen“, erzählt sie und lacht und erinnert sich: „Das war eine wilde, schöne Zeit.“

Dank der vorherigen Fachstelle „Altern unterm Regenbogen“ konnten Barbara und Barbara in der Rikscha an einer Demo gegen rechts teilnehmen. Foto: Bernd Plöger

Ihre Partnerin, die auch Barbara heißt, hatte ihr Coming-Out mit Anfang 50. Sie ging damals zur „frauenberatungsstelle düsseldorf“. Die heute 84-Jährige sagt: „Das war für mich eine Anlaufstelle, die Sicherheit gegeben hat. Ich habe Unterstützung gesucht und gefunden.“ Allerdings sei ihr aufgefallen, wie jung die anderen Frauen dort waren. Später hat sie selbst zusammen mit einer Beraterin eine Gruppe für lesbische Frauen über 50 gegründet.

Mit allen möglichen Menschen zusammen sein

Kennengelernt haben die beiden sich in einer Theatergruppe. Barbara (87) lebte damals noch mit ihrem Ehemann zusammen. Es war nicht einfach für sie, sich auf die neue Beziehung und Lebenssituation einzulassen, aber sie war auch „total verknallt“, erzählt sie, „wie ein Teenie“. Es wäre schön gewesen, wenn es damals eine Gruppe für lesbische Frauen in ihrem „zentrum plus“ gegeben hätte, sagt sie rückblickend. Auf der anderen Seite findet sie es auch gut so wie es war, weil sie sich nicht separiert habe. Ihr gefällt, dass es in den „zentren plus“ heute viele verschiedene Angebote gibt und Besucher*innen sich in speziellen Gruppen aber auch mit allen anderen treffen können. Neben der Gymnastikgruppe für alle Frauen besucht sie auch das „Lesbenfrühstück“ und sagt: „Ich will mit allen möglichen Menschen zusammen sein.“

Eine spezielle Beratung, wie es sie durch die Fachstelle gibt, finden die beiden wichtig: „Man fühlt sich nicht allein gelassen. Wir bekommen jetzt auch Hilfe bei Fragen zum Thema Pflege. Da ist es gut zu wissen, dass es die Stelle gibt.“

Mit falschen Vorstellungen aufräumen

Mit ihrer Geschichte sind sie schon mehrfach an die Öffentlichkeit gegangen. Seit einem Film in der WDR-Sendung „Frau TV“ kamen immer wieder Medienanfragen und es finden Filmabende in den „zentren plus“ mit den Beiden statt. „Die sind einfach gut“, sagt Barbara (87). „Da kommen auch Frauen, die keine Berührung mit Lesben haben. Es ist schön, die Möglichkeit zu haben, mit falschen Vorstellungen aufzuräumen, und anderen die Angst nehmen.“ „Traut euch“, antwortet ihre Partnerin auf die Frage hin, was sie anderen gerne mitgeben würde.

„Es wäre schön, sich nicht erst erklären zu müssen“

Das späte Coming-Out von Barbara und Barbara ist gut aufgenommen worden. Auch im Krankenhaus und mit dem Pflegedienst haben die beiden überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Die Pfleger*innen haben sie anfangs für Schwestern gehalten, seien dann offen und höflich gewesen, erzählen sie. „Da hat sich schon was getan, das muss man sagen. Es wäre aber schön, sich nicht erst erklären zu müssen. Und es wäre angenehm, wenn es zum Beispiel einen Pflegedienst gäbe, der auf queere Menschen spezialisiert ist. Immerhin geht es da ja um sehr intime und körperliche Dinge“, sagt Barbara (87). „Und gerade, wenn mal jemand Neues kommt, wäre es leichter, von Anfang an zu wissen, ich brauche mich nicht vorzusehen.“

Traumatische Erfahrungen erfordern besondere Sensibilität 

Das Gefühl, sich vorsehen zu müssen, sei besonders dramatisch für Menschen, die starke Diskriminierungen und sogar Kriminalisierung erlebt haben, erläutert Bernd Plöger. Einige der älteren LSBTIAQ+ hätten zum Teil Gewalterfahrungen in der Medizin oder staatliche Verfolgung erlebt. Noch bis vor einigen Jahren habe es geschlechtsnormierende Operationen im Kindesalter bei intersexuellen Menschen, Zwangsscheidungen und erniedrigende Prozeduren bei der Änderung des Geschlechtseintrags für trans* Personen gegeben. Bis in die 90er Jahre seien lesbischen Müttern noch Kinder entzogen und bis 1969 schwule Männer unter dem Paragraphen 175 kriminalisiert und verfolgt worden, der letztlich erst 1994 abgeschafft wurde. „Viele haben in der Aidskrise fast ihr gesamtes Umfeld verloren und der Umgang mit HIV und Aids ist in der Pflege bis heute ein riesen Thema“, sagt Bernd Plöger. „Menschen mit teils so traumatischen Erfahrungen brauchen Respekt.“ Deshalb schult und sensibilisiert die Beratungsstelle auch angehende Pfleger*innen und steht Fachkräften aus den Bereichen Gesundheit und Offene Senior*innenarbeit zu Verfügung.

Sensibilisierung und interkulturelle Angebote

Die Notwendigkeit, sich zu sensibilisieren und die Angebote zu öffnen, beschränkt sich nicht auf queere Menschen. „Es geht auch darum, wie wir zum Beispiel Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte für die regulären Angebote interessieren können. Es gibt nie nur die eine Gruppe mit homogenen Bedürfnissen, sondern viele verschiedene Menschen und solche, auf die mehrere Diversitätsmerkmale zutreffen“, sagt Bernd Plöger. So sieht es auch Anne Kühl. Seit diesem Jahr bietet sie für alle Kolleg*innen der „zentren plus“ rassismuskritische Begleitung an. Dabei geht es um Sensibilisierung, und das heißt erstmal „bei sich selbst anzufangen“, sagt sie. „Wie spreche ich? Welche Vorurteile habe ich selbst verinnerlicht? Wie kann ich im Fall von Grenzüberschreitungen Haltung zeigen und gleichzeitig im Dialog bleiben?“ Diversitätssensibilität bedeutet für sie: „zuhören und individuell begleiten, den Bedarf und die Biografie sehen, Menschen nicht über einen Kamm scheren.“ Eine Dozentin wird über das Jahr verteilt zwölf Workshops durchführen, am Ende soll eine Leitlinie für die „zentren plus“ erstellt werden.

„Vertrauen und Beziehung sind das Wichtigste“ sagt Bernd Plöger über seine Arbeit in der Offenen Senior*innenhilfe und der Fachstelle „Queer im Alter“.

Zuhören, annehmen, sensibel sein

„Wir möchten den Raum öffnen für Menschen, die vorher nicht die Möglichkeit hatten teilzuhaben, sagt Anne Kühl. „Was müssen wir zum Beispiel tun, damit Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bei Sportangeboten mitmachen möchten? Es ist wichtig zuzuhören, anzunehmen und sensibel zu sein für den einzelnen Menschen.“ Es gibt auch ganz konkrete Anregungen, um Menschen, die nicht der sogenannten Mehrheitsgesellschaft angehören, anzusprechen: in allen „zentren“ gibt es Gebetsteppiche, Schilder in verschiedenen Sprachen. Oder was ist mit queerer Literatur im Bücherregal, queeren Filmabenden und diversen Ankreuzmöglichkeiten bei Formularen, gibt Bernd Plöger zu denken. „Es gibt sehr viel zu berücksichtigen, wichtig ist, sich jetzt auf den Weg zu machen.“

Was macht gutes Älterwerden aus? „Dass ich mich nicht verstecken muss, dass ich so sein kann, wie ich bin, ernstgenommen werde und die Möglichkeit habe, zu gestalten“, sagt Anne Kühl. Barbara und Barbara, die mittlerweile seit 16 Jahren ein Paar sind, fällt zu dem Thema sofort ein: „Gesund älter werden. Das ist das Wichtigste. Dafür braucht es auch die richtige Beratung.“ 

Text: Irit Bahle, Fotos Eugen Shkolnikov

Infos

“zentren plus”: Die Gruppen sowie alle Angebote und Kontakte der „zentren plus“ sind in den Programmen online zu finden.

„Queer im Alter“ ist eine Anlauf- und Beratungsstelle für LSBTIAQ+ ab 55. Sie steht sowohl Menschen aus der queeren Community als auch Fachkräften in den Bereichen Pflege, Gesundheit und offene Senior*innenarbeit zur Verfügung. Sie bietet Beratungen an (in der Aidshilfe Düsseldorf und im „zentrum plus“ der AWO in Unterbilk), Veranstaltungen zu queeren Themen und Versorgungsthemen, sowie Fortbildungen in den Bereichen Pflege und Gesundheit.
Kontakt: Bernd Plöger (Personalpronomen: er/ihn), 
AWO Kreisverband Düsseldorf e.V., Fachreferent Queer im Alter, Koordination „zentrum plus“ / AWO in Unterbilk, 
Siegstraße 2, 40219 Düsseldorf
Tel: 0211 600 25 251, Mobil: 0152 2168 6029,
E-Mail: bernd.ploeger@awo-duesseldorf.de