Ein Leben zwischen zwei Welten

Flucht, Neubeginn und Zukunft

Interview
Ausgabe 1/2025

Der Sturz des Assad-Regimes am 8. Dezember 2024 markiert eine historische Wende für Syrien. Nach jahrelangem Bürgerkrieg steht das Land vor einem Neuanfang – doch die Herausforderungen sind enorm. Viele syrische Geflüchtete, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben, stehen nun vor einer schwierigen Entscheidung: Rückkehr nach Syrien oder ein dauerhaftes Leben in Deutschland? Mohamad Alfalah, der 2014 mit seinem Sohn aus Syrien floh, hat in Deutschland nicht nur Sicherheit gefunden, sondern auch beruflich als Pflegekraft Fuß gefasst. Im Interview mit dem AWOspiegel spricht er über seine Flucht, die Herausforderungen beim Ankommen in Deutschland und darüber, warum er sich entschieden hat, Deutschland als seine neue Heimat zu betrachten – auch wenn seine Wurzeln in Syrien bleiben. Seine Geschichte zeigt, wie Geflüchtete durch Mut, Einsatzbereitschaft und Unterstützung aus der Gesellschaft ein neues Leben aufbauen können.

Mohamad Alfalah ist im Georg-Glock-Haus der AWO als Pflegefachkraft tätig.

AWOspiegel: Nach dem Sturz von Assad verändert sich Syrien gerade tiefgreifend. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an Ihr Heimatland denken?

Mohamad Alfalah: Der 8. Dezember 2024 ist wie ein Geburtstag für Syrien, eine Art Neugeburt meines Heimatlandes. Das Assad-Regime wurde gestürzt, darüber bin ich mehr als glücklich. Jedoch ist Syrien in großen Teilen zerstört, die Wirtschaft ist nicht existent. Der Wiederaufbau wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Ein weiteres Problem ist, dass sehr viele Waffen in Syrien im Umlauf sind. Das sind schwerwiegende Probleme, die nicht einfach zu lösen sind. Wir benötigen für den Wiederaufbau auch finanzielle Unterstützung aus dem Ausland – aus Europa, aber auch den arabischen Staaten.

AWOspiegel: Sie haben Ihre Heimat unter schwierigsten Umständen verlassen. Können Sie uns von Ihrer Flucht erzählen?

Mohamad Alfalah: Ich wurde in Syrien von der Geheimpolizei beobachtet, weil ich die Missstände im Land angeprangert habe. Auch deshalb entschieden wir uns 2014 für die Flucht aus meinem Heimatland. Mein Sohn und ich waren über einen Monat unterwegs. Eine unserer letzten Etappen führte uns im Winter über das Mittelmeer. Wir waren drei Tage ohne Essen und Trinken auf einem kleinen Boot mit rund zweihundert Menschen unterwegs. Es waren auch viele Frauen, Schwangere und Kleinkinder an Bord. Die Überfahrt war sehr hart. Dann kamen wir über Italien nach Frankreich. Anschließend haben wir uns per Anhalter bis Paris durchgeschlagen. In Paris haben mein Sohn und ich zehn Tage auf der Straße gelebt und übernachtet. Glücklicherweise bekamen wir auch Hilfe in Form von Essen und etwas Geld von Kirchengemeinden und Moscheen. Dann kaufte uns ein Pfarrer Bahntickets nach Düsseldorf – ich bin ihm für immer dankbar. Für mich war Deutschland ein Wunschziel, weil hier Stabilität und Sicherheit herrschen. Am 15. Dezember 2014 erreichten wir Deutschland. Diesen Tag werde ich nie in meinem Leben vergessen. Das war wie ein Geburtstag für mich. Meine Frau und meine beiden Töchter holte ich dann 2015 nach. Ich wollte damals nicht, dass sie auf diese gefährliche Flucht mitkommen.

AWOspiegel: Die erste Zeit in einem neuen Land ist nie einfach. Wie haben Sie sich in Deutschland eingelebt? Gab es Menschen, die Ihnen besonders geholfen haben?

Mohamad Alfalah: In Düsseldorf wurde ich sehr gut aufgenommen. Bei vielen Institutionen, wie der AWO Düsseldorf, fand ich gute Unterstützungsangebote. Ich konnte direkt kostenlose Deutschkurse absolvieren. Zudem war die Hilfsbereitschaft der Düsseldorfer Bevölkerung sehr groß: Wir erhielten Kleidung, Spielsachen für unsere Kinder oder Haushaltsgegenstände. Die AWO organisierte oft auch kleine Veranstaltungen wie Picknicks in Parks – so konnten wir die Stadt und die Menschen besser kennenlernen. Eine Person möchte ich besonders hervorheben: Christian Winter (Anmerkung der Redaktion: Vorgesetzter von Herrn Alfalah) hat mir mit der Ausbildung zur Pflegfachkraft eine echte Chance gegeben, auch wenn ich damals schon relativ alt für eine Ausbildung war. Er hat mich während der ganzen Ausbildung begleitet und hatte immer ein offenes Ohr für mich. Dafür möchte ich ihm, aber auch dem gesamten Team der AWO VITA, von Herzen Danke sagen.

Ein Beruf mit Herz – der Weg in die Pflege

AWOspiegel: Sie arbeiten als Pflegekraft bei der AWO VITA gGmbH. Was bedeutet Ihnen dieser Beruf? Und was hat Sie dazu bewegt, sich für die Pflege zu entscheiden?

Mohamad Alfalah: Eigentlich bin ich gelernter Diplom-Ökonom. In Syrien habe ich eine Fabrik für Bekleidung geleitet. Nachdem ich die Sprachkurse absolviert hatte, wurden mir vom Jobcenter zwei Angebote gemacht: die Arbeit in einer Security-Firma und die Arbeit in der Altenpflege. Ich habe mich dann sehr schnell für die Pflege entschieden – und das aus mehreren Gründen. Meine Eltern sind heute noch in Syrien, inzwischen habe ich sie elf Jahre nicht gesehen. Ich mag Senior*innen und die Arbeit mit ihnen – das tut mir gut und ist gut für mein Herz. Ein bisschen sind die alten Menschen in meiner Einrichtung wie meine Eltern für mich. 

Der zweite Punkt ist, dass ich Deutschland etwas zurückgeben möchte. Deutschland hat mich und meine Familie mit offenen Armen aufgenommen und uns in so vielen Bereichen geholfen. Durch meine Arbeit in der Pflege kann ich Deutschland, die Gesellschaft und die Menschen unterstützen. Das ist mir sehr wichtig.

Zudem wusste ich, dass ein Job in der Pflege eine gute Zukunftsperspektive bietet, da die deutsche Gesellschaft immer älter wird. Mir ist es wichtig zu arbeiten. Nur auf der Couch sitzen und nichts tun wäre gar nichts für mich. Ich muss immer in Aktion sein.

Im Rückblick kann ich sagen, dass mir die Arbeit mit den Bewohner*innen unserer Einrichtungen sehr geholfen hat, mein Deutsch zu verbessern. Die Senior*innen haben sich immer viel Zeit genommen, mit mir zu sprechen. Dieser Vorteil wurde mir aber erst später bewusst.

AWOspiegel: Ihr Sohn arbeitet wie Sie in der Pflege bei der AWO. Wie kam es dazu?

Mohamad Alfalah: Ich habe meine Ausbildung bei der AWO zur Pflegekraft als erstes begonnen und habe meinem Sohn erzählt, wie viel Freude die Ausbildung macht. Außerdem habe ich ihm von den zahlreichen Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten in diesem Bereich berichtet. Das hat ihn schließlich überzeugt und jetzt ist er mit genau so viel Herz wie ich in der Pflege aktiv.

AWOspiegel: Deutschland sucht dringend Fachkräfte in der Pflege. Welche Vor- und Nachteile bietet dieser Beruf aus Ihrer Sicht?

Mohamad Alfalah: Als Pflegekraft arbeitet man natürlich im Schichtdienst und auch an Sonn- und Feiertagen. Die Arbeit ist auch körperlich anstrengend. Die Vorteile überwiegen für mich aber. Es gibt einem ein positives Gefühl, geholfen zu haben und die Bewohner*innen bei ihrem Leben in unseren Einrichtungen zu unterstützen. Die Bewohner*innen sind immer sehr dankbar. Das berührt mich sehr. Außerdem ist eine gute Stimmung im Team und ich werde für meine Arbeit geschätzt und respektiert.

Bleiben oder zurückkehren?

AWOspiegel: Inzwischen haben Sie die deutsche Staatsangehörigkeit. Spielen Sie trotzdem mit dem Gedanken, nach Syrien zurückzukehren, jetzt da das Assad-Regime gestürzt wurde? Oder ist Deutschland inzwischen Ihre neue Heimat? 

Mohamad Alfalah: Ich hatte ja bereits erwähnt, dass der 15. Dezember 2014 wie eine Art Geburtstag für mich war. Mit meiner Ankunft in Deutschland hat ein neues Leben für mich begonnen. Ich habe hier eine Ausbildung absolviert, mein Sohn ebenfalls, meine Frau ist inzwischen als Buchhalterin bei einer Sprachschule tätig und meine Kinder besuchen die Schule. Wie sagt man so schön: Wir sind hier angekommen. Unser Lebensmittelpunkt ist Deutschland. In Deutschland schätzen wir besonders die Freiheit. Ich gehe freitags in die Moschee, viele meiner Kollegen in die Kirche und dann treffen wir uns alle wieder. Das ist hier in Deutschland ganz normal und das schätze ich sehr. Auch deshalb fühlen wir uns wohl und wollen hierbleiben. Sozusagen habe ich jetzt zwei Heimatländer. Ich plane aber trotzdem längere Reisen nach Syrien, wenn sich die Lage dort stabilisiert hat. Schließlich sind meine Eltern noch dort und sie fehlen mir sehr.

AWOspiegel: Kennen Sie aus Ihrem Umfeld auch Menschen, die jetzt nach Syrien zurückkehren wollen?

Mohamad Alfalah: Die meisten, die ich kenne, wollen hierbleiben. Denn man darf nicht vergessen, dass in Syrien noch kein wirklicher Frieden herrscht. Die ganze Situation ist sehr fragil. Das zeigen auch die gerade wieder aufflammenden Kämpfe. 

Blick nach vorn

AWOspiegel: Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft – beruflich, aber auch persönlich? Gibt es Träume oder Pläne, die Sie noch verwirklichen möchten?

Mohamad Alfalah: Ich möchte weiterhin in Frieden leben. Der Krieg in Syrien war schrecklich. Wir haben zahlreiche Bombardements miterlebt, mussten viele Tage im Keller ausharren und hörten die Bomben neben uns einschlagen. Deshalb sind Frieden, Freiheit und Sicherheit meine Herzenswünsche für die Zukunft.

Das Interview führte Sina Betz, Fotos: Eugen Shkolnikov.